Wahlkampf – eine uferlose Materialschlacht?

Ein persönlicher Blick auf ein ständig wiederkehrendes Phänomen

 

Mein ganzes Leben lang war ich immer froh, wenn er wieder vorbei war: der Wahlkampf. Das Bitten,  Betteln, Flehen, Schmeicheln, Lächeln um meine Stimme empfand ich stets als aufdringlich. Meist sind es keine Argumente, die mich verführen sollen, mein Kreuzchen an einer bestimmten Stelle zu machen. Nein, es sind sorgfältig auf ihre Wirksamkeit hin erforschte psychologische Tricks, die mich ködern sollen. Und ich weiß das. Ich weiß auch, dass die Kandidatin oder der Kandidat meist die schlechteren Karten hat, die/der die Kraft des Bildes und der permanenten öffentlichen Präsenz unterschätzt. Deshalb wird von den Laternenmasten herab gelächelt und posiert, was das Zeug hält. Wegsehen ist kaum möglich. Menschliche Grundbedürfnisse werden auf riesigen Plakatwänden in eingängige, schöne Bilder umgesetzt, die unsere Sehnsüchte widerspiegeln und uns betören sollen. Und viele Botschaften bleiben so vage, dass die Wahlsieger sich später schnell wieder von ihren Versprechungen lösen können, wenn sie sich als überzogen oder als nicht finanzierbar herausstellen. Also alles nur Schaumschlägerei? Nein, Wahlkampf muss sein! Aber wie?

Jetzt – nach meinem ersten Parteieintritt in meinem schon recht langen Leben – erlebe ich selbst hautnah, was Wahlkampf bedeutet. Bei Einhaltung der Abstandsregeln trifft sich unsere kleine Gruppe fast wöchentlich in einem Garten und entwickelt Strategien. Einen Profi, der unsere Auftritte optimieren könnte, haben wir dafür nicht und können wir uns auch nicht leisten. Selber Denken und Planen ist angesagt. Unsere Ressourcen sind wir Parteimitglieder selbst. Wir wollen ehrlich sein und überzeugen, aber nichts vortäuschen, was wir nicht sind und auch nicht sein wollen. Wir entdecken, wer was einbringen kann und in welchen Bereichen er/sie unsere Arbeit unterstützen kann. Wir verteilen Aufgaben, tauschen uns aus, stimmen uns ab und geben einander Rückmeldung. Nach jedem Treffen gibt es eine lange To-Do-Liste. So entstehen Aktionen, eine Zeitung, Flyer, Webauftritte mit viel Information. Wir alle geben, was unser Zeitbudget zulässt.

Aber reicht das alles, um hinreichend auf uns und unsere Vorstellungen von einer auf Nachhaltigkeit hinarbeitenden Kommune aufmerksam zu machen? Eines unserer Ziele ist ja auch, maßvoll mit Material umzugehen, das schon bald wieder entsorgt werden muss. Deshalb war unser Wahlkampf (fast) kunststofffrei, Plakate und Zeitung waren auf Recyclingpapier gedruckt und auch mit der Menge an Material haben wir es nicht übertrieben.

Doch was tun, wenn die eigenen Plakate kaum noch auffallen, weil die anderen täglich aufrüsten? Sie geben zwar vor, die Umwelt schützen zu wollen, haben aber keine Skrupel, in jedem kleinen Sträßchen auch noch den letzten Laternenpfahl mit auf Plastik gedruckten Köpfen zu behängen, getreu dem Motto „Viel hilft auch viel“. Wir GRÜNE wollten diese Spirale nicht mitmachen, uns nicht treiben lassen zu einem immer aufdringlicheren und materialintensiveren Wettbewerb. Niemand sollte beim Anblick unserer Plakate Überdruss entwickeln. Wir wollten glaubwürdig bleiben in unserem Bestreben, der Natur nicht immer mehr zuzumuten. Auch ein guter Zweck, z. B. die Mehrheit im Stadtrat zu gewinnen und den Bürgermeister stellen zu können, heiligt nicht jedes Mittel.

Daher wünschen wir uns für die nächsten Wahlkämpfe eine Limitierung der ausgehängten Plakate für alle Parteien! Weniger Materialschlacht bedeutet mehr Chancengerechtigkeit und weniger Müllberge! Wer es ernst meint mit unserer Umwelt, wird uns hoffentlich unterstützen!

Karin Heymann, Bündnis 90/DIE GRÜNEN

P.  S.: Und was sagt uns das Startbild vor diesem Beitrag, das möglicherweise etwas rätselhaft anmutet und fast an abstrakte Kunst erinner?

Lediglich eine Partei (DIE GRÜNEN) verwendete in Werther unbeschichtete Recycling-Pappe für ihre Plakate, die über das Altpapier entsorgt werden können; die vier anderen hingegen Kunststoff (Hohlkammer-Plakate aus Polypropylen). Die folgenden fünf Fotos machen die Unterschiede deutlich:

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